Freitag, 6. Juni 2014

WM-Vorschau (1/32): Frankreich

Die jüngere Vergangenheit

Frankreich nimmt 2014 zum fünften Mal in Folge an einer WM teil, was einen neuen Rekord in der Geschichte des Verbandes bedeutet. Seit dem Double aus dem Weltmeistertitel 1998 und der Europameisterschaft 2000 gehörte Frankreich zwar konstant zum Favoritenkreis bei großen Turnieren, wurde dieser Rolle aber selten gerecht. Mit Ausnahme des zweiten Platzes 2006, der einen Ausreißer nach oben darstellt, war das 21. Jahrhundert bisher wenig glanzvoll: 2002 und 2010 reichte es nicht mal zum Achtelfinale, auch bei den Europameisterschaften war stets spätestens im Viertelfinale Schluss.

Trainer

Didier Deschamps, 45, Kapitän der 98er-Elf, übernahm nach der Euro 2012. Als Trainer war er bereits Meister in Frankreich (Marseille) und in der italienischen Serie B (Juventus), außerdem führte er den AS Monaco 2004 völlig unerwartet ins Champions-League-Finale. Deschamps bewies mit der Entscheidung gegen Samir Nasri, dass er keine Angst vor kontroversen Personalien hat und im Zweifel Charakter höher als fußballerische Klasse bewertet.

Kader & Aufstellung

Mit Ausnahme von Nasri (Deschamps: „Talent ist nicht alles“) ist der 23er-Kader der Franzosen frei von Überraschungen. Auch die Formation scheint klar zu sein: Frankreich wird die WM in einem 4-3-3, in dem auch die personelle Besetzung an 8 von 11 Stellen bereits feststeht, in Angriff nehmen. Unklarheiten bestehen nur noch auf folgenden Positionen:
  • Rechtsverteidiger: Die Kandidaten heißen Bacary Sagna und Mathieu Debuchy. Sagna hatte im Verein die etwas bessere Saison, Debuchy hat in der Qualifikation regelmäßig gespielt. Beide nehmen sich nicht viel, Debuchy scheint aber die etwas besseren Karten zu haben.
  • Innenverteidiger: Wer spielt neben Laurent Koscielny? Mamadou Sakho hat nach seinen beiden Toren gegen die Ukraine eine Art „Heldenbonus“, seine Stärke ist seine physische Spielweise. Raphael Varane kommt als Champions-League-Sieger zur WM und ist wesentlich eleganter und technisch besser als Sakho.
  • Linksaußen: Wer ersetzt Ribery? Wahrscheinlich Antoine Griezmann, bei dem aber freilich abzuwarten bleibt, wie er mit den Anforderungen an eine WM zurechtkommt. Eine weitere Option wäre Loic Remy – insbesondere, falls Mathieu Valbuena sein Formtief bei der WM fortsetzt und Griezmann das dadurch entstehende Loch im rechten Mittelfeld ausfüllen muss.
                                          Mögliche Startformation

Stärken
  • Disziplin: Mannschaftsinterne Unruhe hat mehr als einmal die Leistungen der Franzosen bei vergangenen Turnieren negativ beeinflusst. Mit der Nichtberücksichtigung Nasris hat Deschamps versucht, diesem Problem entgegenzuwirken – ein Move, der sich als äußerst gewinnbringend erweisen könnte.
  • Individuelle Klasse: Trotz vergleichsweise geringer internationaler Erfahrung reist Frankreich mit einem großartig besetzten Kader zur WM. Varane ist einer der talentiertesten Innenverteidiger der Welt, mit Paul Pogba, Blaise Matuidi und Yohan Cabaye bieten die Franzosen zudem ein Mittelfeld von internationaler Klasse auf. Karim Benzema spielte bei Real Madrid eine gute Saison (35 Spiele, 17 Tore, 10 Vorlagen) und ist, sofern er seine Form zur Nationalmannschaft retten kann, zweifellos eine Waffe.
  • Selbstvertrauen: Zwischen Selbstvertrauen und Überheblichkeit liegt oft nur ein kleiner Schritt – doch die Qualifikation zur WM, die nach der 0:2-Niederlage im Play-Off-Hinspiel gegen die Ukraine schon fast verloren schien, dürfte den Glauben der Mannschaft an ihre Leistungsfähigkeit gestärkt haben.
  • Aktuelle Form: Aus Testspielergebnissen Erkenntnisse für die WM ableiten zu wollen, wäre weit hergeholt. Und doch gibt es Zeichen dafür, dass Frankreich rechtzeitig zur Endrunde die „Zauberformel“ gefunden hat. Nach der Umstellung auf ein 4-3-3 zum Rückspiel gegen die Ukraine zeigt die Formkurve stetig nach oben, das 2:0 im Test gegen die Niederlande Anfang März war eines der besten Spiele der Équipe Tricolore in der jüngeren Vergangenheit.
Schwächen
  • Erfahrung: Frankreich fährt mit einem relativ unerfahrenen Kader zur WM. Ribery war mit 81 Länderspielen der mit Abstand erfahrenste Spieler – eine Rolle, die nun Benzema mit lediglich 65 Einsätzen einnimmt. Dass Deschamps auf erfahrene Akteure wie beispielsweise Eric Abidal verzichtet hat, lässt sich zumindest teilweise mit Blick auf die Euro 2016, die in Frankreich stattfindet, begründen: Junge Spieler sollen an die Erfahrung eines großen Turniers herangeführt werden – zumal die WM in Frankreich durchaus als eine Art „Übergang“ gesehen wird, der Fokus liegt klar auf 2016. Beispielhaft hierfür steht der 20jährige Lucas Digne, der den Vorzug vor dem wesentlich routinierteren Gael Clichy erhielt.
  • Formschwäche: Problematisch sind auch Formschwächen bzw. fehlende Spielpraxis bei Spieler, die als Stammkräfte eingeplant sind: Valbuena hatte in Marseille eine schwache Saison, Cabaye kam nach seinem Wechsel zu PSG an Matuidi, Verratti und Thiago Motta nur selten vorbei. Mit Benzema setzt Deschamps zudem auf einen Angreifer, dessen Trefferquote in der Nationalmannschaft noch Verbesserungspotenzial aufweist. Im vergangenen Oktober beendete Benzema eine 1.224 Minuten andauernde Torflaute, trotz Teilnahme an den Europameisterschaften 2008 und 2012 wartet er noch auf seinen ersten Treffer bei einer Endrunde.
  • Ribery: Schließlich ist an dieser Stelle natürlich auch der Ausfall Riberys zu problematisieren: Obwohl der Bayer bis dato ein schwaches Jahr 2014 hatte, wäre sein Mitwirken ungemein wichtig gewesen. Ribery zählte unter Deschamps zu den unumstrittenen Stammspielern, mit 10 WM-Partien hatte er zudem mehr Erfahrung als der ganze restliche Kader zusammen.
Prognose

Im Prinzip ist Frankreich eine Mannschaft, die seit 12 Jahren die Erwartungen enttäuscht – sowohl negativ als auch, 2006, positiv. Prognosen sind dementsprechend schwierig, es gibt allerdings Gründe, die für eine erfolgreiche WM der Franzosen sprechen. Die Wahrscheinlichkeit für Unruhe innerhalb der Mannschaft scheint mit der Nichtnominierung Nasris gesunken zu sein. Mit Pogba, Cabaye und Matuidi besitzt die Mannschaft eine der aufregendsten Mittelfeldformationen des Turniers. Zudem spielt die Auslosung den Franzosen in die Hände: In Gruppe E sollte der erste Platz gegen Ecuador, Honduras und die Schweiz definitiv drin sein, womit im Achtelfinale aller Voraussicht nach mit Bosnien, Iran oder Nigeria ein ebenfalls schlagbarer Gegner warten würde. Wenn zudem die vielen unerfahrenen Spieler mit den Anforderungen einer WM klarkommen und Benzema seine Form von Real Madrid zur Nationalmannschaft mitbringt, ist das Viertelfinale sicherlich eine realistische Prognose.


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